Donauwörther ZEITUNG 17.8.2019
MERTINGEN 17.08.2019
Bild: Barbara Würmseher
Schwangerschaft und Geburt waren früher oft wahre Tragödien. Die Kindersterblichkeit war hoch, unehelich Geborene waren mit einem Makel behaftet, Frauen wurden oft heftigen Torturen ausgesetzt und Hebammen spielten eine besondere Rolle. Eine Ausstellung in Mertingen erzählt von all diesen „anderen“Umständen.
In Psalm 127, Vers 3-5 ist es zu lesen „Siehe, Kinder sind eine Gabe des Herrn, und Leibesfrucht ist ein Geschenk“. So ist es eigentlich seit jeher.
In der heutigen Kleinfamilie ist jedes Kind ein Grund zur Freude. Aber in der Zeit unserer Großeltern war es nicht immer so. Familien, in die zehn, zwölf oder 18 Kinder geboren worden waren, waren ja keine Seltenheit – auch wenn in sehr vielen Fällen keineswegs alle Kinder groß wurden. Und die Mutter all dieser Kinder war oft auch schon die zweite, dritte oder gar weitere Frau des Familienvaters. Viele ältere Menschen wissen noch um diese Geschehnisse, stammen oft noch selbst aus sehr kinderreichen Familien oder wissen noch aus eigener Erfahrung von gestorbenen Geschwistern, oder auch Stiefmüttern.
Historische Tatsache ist, dass noch vor nicht allzu langer Zeit die Kindersterblichkeit in Deutschland so hoch war, wie sie heute in der Subsahara ist, und um 1850 die Kindersterblichkeit in Deutschland die höchste in Europa war. In der Donaugegend beziehungsweise in Schwaben lag die Sterblichkeit der Kinder bis zu einem Jahr im Durchschnitt bei über 25 Prozent, in einzelnen Regionen auch weit darüber – in einigen Landkreisen bei nahezu 50 Prozent. In der hiesigen Region, die im Physikatsbericht des Donauwörther Stadtphysikus Dr. Thomas Lauber von 1856 als „Malariagegend“ gekennzeichnet wird, starben um die 40 Prozent der Kleinsten.
Bild: Barbara Würmseher
Die Museumsfreunde Mertingen haben diese geschichtlichen Fakten als Ausgangspunkt für ihre neue Ausstellung bis Anfang September genommen, um sich mit dem „Kinderkriegen (in alter Zeit)“ auseinander zu setzen. Dazu kam, dass eine tatkräftige Frau von 1901 bis 1950 als Hebamme in Mertingen tätig war und mehr als 2700 Kinder auf die Welt brachte – die nichtehelich geborene und als 14-jährige Magd von Blindheim nach Mertingen verdingte Barbara, verehelichte Wagner.
„Sie war ein gscheits Mädle“ erinnert sich ihre mittlerweile hochbetagte Enkelin Marianne Fackler, „und hat einen Kurs in Donauwörth gemacht. Danach arbeitete sie, ohne in die Hebammenschule gehen zu müssen, als Hebamme“. Barbara Wagner hat selbst 13 Kinder geboren, die ersten beiden Söhne starben schnell, der dritte überlebte, insgesamt wurden acht ihrer Kinder erwachsen. „Die Großeltern schliefen in der Kammer unten, und wenn sie gebraucht wurde, klopfte man ans Fenster“. So war sie auch, weil sie neben Mertingen in Druisheim und Auchsesheim tätig war, die erste Frau, die in Mertingen ein Fahrrad benutzte, und neben ihrem Mann Verdienerin in der Familie. Der Verdienst als Hebamme war nicht groß – sie arbeitete daneben noch auf dem Hof.
Bild: Barbara Würmseher
Jede Geburt war eine lebensgefährliche Angelegenheit. Fast jedes zweite Kind starb, der Tod im Kindbett war Normalität. Immer schon waren die Hebammen die Helferinnen der Frauen in der schweren Geburtsstunde. Schon im alten Ägypten sind Hebammen auf Wandmalereien abgebildet, im Alten Testament hoch gelobt. Griechen und Römer schätzten die „weisen Frauen“ hoch, auch die Völker jenseits der Alpen, und das ging so bis weit in die Neuzeit. Sie wurde früher ausgewählt von Frauen aus der Reihe der Frauen, die selbst Kinder geboren hatten.
Aber früh griff die Obrigkeit regulierend ein, Überwachung erfolgte durch die Physici. Diese akademisch ausgebildeten Ärzte beschäftigten sich nicht mit entbindenden Frauen, die „Hand anlegenden“ Ärzte waren Chirurgus und Bader. Bis sich zu Beginn des 7. Jahrhunderts, von Frankreich ausgehend, Ärzte den gebärenden Frauen zuwandten – und diese vom Geburtsstuhl ins Bett legten.
Bücherwissen gab es schon. Soranos von Ephesos verfasste das erste Hebammenlehrbuch „Gynaikeia“ um 117 nach Christus. Um 220 wurde es vom griechischen Arzt Moschion erneut herausgegeben: Es war gesammeltes Hebammenwissen. Die weisen Frauen gaben ihr (Erfahrungs-)Wissen in der Regel mündlich weiter. Sie waren kundig im Wissen um die Heilkraft von Kräutern, konnten vor einer Schwangerschaft, während des Verlaufes derselben, bei einer und nach einer Geburt helfen. Hebamme zu sein war immer ein sozial angesehener Beruf – zur Zeit der Hexenverfolgung aber auch ein gefährlicher. Dabei ist mittlerweile historisch belegt, dass die Zahl der als Hexe verbrannten Hebammen im Durchschnitt nicht höher war als die Zahl der aus allen Bevölkerungskreisen verbrannten Frauen.
Bild: Barbara Würmseher
Die Mertinger Ausstellung greift weit in die Geschichte des Gebärens zurück; sie befasst sich auch mit den sozialen Bedingungen der Kinder- und Müttersterblichkeit, besonders in der Zeit ab 1800 bis heute. Bayern war ein Agrarland. Rund 60 Prozent der Bevölkerung – Bayern hatte beispielsweise um 1825 rund 3,7 Mio Einwohner – war in der Landwirtschaft beschäftigt. Heirat war nicht jedem Einwohner erlaubt, die Heiratserlaubnis setzte regelmäßig voraus, dass eine Familie ernährt werden konnte und ihr Unterhalt nicht der Gemeinde zufiel. Soldaten war das Heiraten untersagt, Knechte und Mägde konnten aufgrund sozialer Absicherung so gut wie nicht heiraten. Damit einher ging eine hohe Zahl nichtehelicher und damit mit einem Makel versehener Geburten. Im 18. und 19. Jahrhundert waren es rund 20 Prozent. Der 1803 in Mertingen eingesetzte Pfarrer schrieb im Taufmatrikel hinter nichteheliche geborene Kinder „Hurenkind“.
Das Leben der Vorfahren war hart; man war den Unbilden des Wetters ausgesetzt, Krankheiten und Seuchen. Die Ernährung bestand zum größten Teil aus Getreidebrei und Kraut, wenig Fleisch. Die Menschen waren schwächlicher und kleiner als heute. Dazu kam die große Frömmigkeit der Bevölkerung. Die Pfarrer waren die moralische Instanz vor Ort. Ihr Wort galt. Die Ehe war dazu da, Kinder zu zeugen. Die Bindung zum Kind war nicht groß. Starb es, war‘s schad, überlebte es, war‘s gut. Die Neugeborenen wurden am dritten Tage von der Hebamme zur Taufe getragen; die Wöchnerin nach sechs Wochen ausgesegnet. Die Ausstellung thematisiert auch dies.
Bild: Barbara Würmseher
Die Ursachen der Säuglingssterblichkeit lagen zum einen in den genannten sozialen Bedingungen, aber auch bei den Stillgewohnheiten. Muttermilch erhöht die Abwehrkräfte der Säuglinge gegenüber Krankheitserregern und reduziert das Risiko der Ernährung mit unzureichenden, schlecht verdaulichen und verdorbenen Lebensmitteln.
All dies wird in der Ausstellung dargestellt – seien es die unhygienischen Trinkflaschen, der unsägliche „Dirzel“ – der mit zerkautem, gesüßtem Brot gefüllte „Schnuller“, getränkt mit Mohnsaft oder anderen betäubenden Stoffen, dem Kind zur Beruhigung in den Mund gestopft, denn die Mütter mussten arbeiten.
Kinderkrankheiten – Fraisen, Gichter, Halsbräune, Diphterie – als Todesursachen werden erklärt, die „Remedien“ wie Fraisenhauben. Die Nottaufe durch die Hebamme, eine Taufspritze aus dem Museum Obergünzburg und die dahinter stehende Geschichte. Die Wallfahrten mit toten Kindern, die Wallfahrten zu den „Marzellern“ – es waren harte Zeiten, für Kinder wie für die Mütter.
Bild: Barbara Würmseher
Zur Abrundung sind in der Ausstellung noch Kleinkindkleidung – rosa als kleines Rot war bis in die 1940er Jahre die Farbe der Männer, blau für die Mädchen – und Spielzeug als Ausblick auf die künftigen Aufgaben ausgestellt, gynäkologisches Instrumentarium, ein Geburtsstuhl aus dem Museum Sontheim/Brenz, Votivgaben und Breferl, um das Böse abzuwenden. Sozialgeschichte also, die uns heute anmutet wie Erzählungen von einem anderen Kontinent.
Info Zu besichtigen ist die Ausstellung noch bis September jederzeit nach vorheriger Terminabsprache (Telefon 09078/1444)